Mitte 2024 ist das Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in weiten Teilen in Kraft getreten – mit negativen Auswirkungen für Menschen mit Behinderungen. Sophia Eckert beantwortet im Interview mit dem KSL.Münster die wichtigsten Fragen zur Neuregelung. Als Referentin im Arbeitsbereich „Crossroads“ bei der gemeinnützigen Organisation Handicap International e. V. setzt sie sich für die Verbesserung der Lebenssituation, die Verwirklichung der Rechte und Teilhabe geflüchteter und migrierter Menschen mit Behinderung in Deutschland ein. Grundlage unserer Arbeit ist die UN-Behindertenrechtskonvention.
KSL.Münster: Was regelt das Staatsangehörigkeitsgesetzt grundsätzlich?
Sophia Eckert: Das Staatsangehörigkeitsrecht regelt, wer die Staatsangehörigkeit eines Landes erhalten, behalten oder verlieren kann. Es bestimmt also, wer Staatsbürger*in von Deutschland ist und werden kann und welche Rechte und Pflichten damit verbunden sind.
KSL.Münster: Was sollte sich mit der Neuregelung ändern bzw. verbessern?
Sophia Eckert: Durch die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts sollte für Personen, die schon viele Jahre und in der Regel mit unbefristetem Aufenthaltsrecht in Deutschland leben, sowie ihren in Deutschland geborenen Kindern die Einbürgerung erleichtert werden. Vor allem wurden die Voraufenthaltszeiten für die Einbürgerung auf fünf Jahre bzw. drei Jahre bei sogenannten besonderen Integrationsleistungen verkürzt. Auch die mehrfache Staatsangehörigkeit wurde durch das Gesetz ermöglicht. Diese Erleichterungen waren im Koalitionsvertrag 2021 zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP vereinbart worden.
KSL.Münster: Was ändert sich durch die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsgesetzt für Menschen mit Behinderungen?
Sophia Eckert: Die Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts beinhaltet neben vorab benannten Verbesserungen auch eine gravierende Verschärfung für Menschen mit Behinderung und andere besonders schutzbedürftige Gruppen, die sich nicht im Koalitionsvertrag befand. Demnach verlieren Personen ihren Einbürgerungsanspruch, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht allein sichern, diesen Zustand aber nicht eigenständig ändern können – etwa, weil sie aufgrund ihrer Behinderung nicht oder nicht voll erwerbsfähig sind.
Das führt bei Menschen mit Behinderung zu einer faktischen Benachteiligung aufgrund ihrer Behinderung – und damit zu einem direkten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG). Die Neuregelung verletzt ebenfalls die Grundprinzipien der Teilhabe und Gleichbehandlung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), gemäß denen Menschen mit Behinderung diskriminierungsfrei Zugang zu allen staatsbürgerlichen Rechten, wie der Einbürgerung, gewährt werden muss. Vor alledem hat Handicap International e.V., wie viele andere Verbände auch, die Bundesregierung und den Gesetzgeber eindringlich gewarnt – und trotzdem wurde die Verschärfung verabschiedet. Sie ist, wie fast alle anderen Änderungen im Staatsangehörigkeitsrecht, am 27. Juni 2024 in Kraft getreten.
Wenn kein gesetzlicher Anspruch auf Einbürgerung besteht, haben die lokalen Behörden dennoch die Möglichkeit, eine Einbürgerung im Ermessen „aus Gründen des öffentlichen Interesses oder zur Vermeidung besonderer Härte“ zu gewähren – auch dann, wenn die betroffene Person Sozialleistungen bezieht. Gemäß dem Willen des Gesetzgebers soll diese „Härtefallregelung“ besonders bei Menschen mit Behinderung und pflegenden Angehörigen zum Tragen kommen, um den Effekt des Ausschlusses von der Anspruchseinbürgerung abzufedern (siehe BT-Drs. 20/9044, S. 34; BT-Drs. 20/10093, S. 9). Dadurch bleibt die Änderung zwar verfassungs- und völkerrechtswidrig. Der Weg in die Einbürgerung sollte in der Praxis aber besonders bei Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen weiterhin offenstehen.
KSL.Münster: Was bedeutet „im Ermessen der lokalen Behörde“?
Sophia Eckert: Das bedeutet, dass die Behörden Spielraum, also Ermessen haben, die Einbürgerung zu erlauben oder sie zu verwehren. Sie wägen dabei ab, welche Entscheidung sie vor dem Hintergrund der Interessen der Antragstellenden an der Einbürgerung und dem Interesse des Staates an der Ablehnung für angemessen und verhältnismäßig halten. Allerdings ist das Ermessen der Behörden begrenzt durch verfassungs- und völkerrechtliche Vorgaben, wie die des Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz und der UN-BRK. Lassen diese nur eine einzige grund- und menschenrechtskonforme Entscheidung zu, reduziert sich das Ermessen der Behörden auf Null, andere Entscheidungen zu treffen. Bei Menschen mit Behinderung, die aufgrund ihrer Behinderung erwerbsgemindert oder -unfähig sind und eingebürgert werden wollen, bedeutet das: die Einbürgerungsbehörden müssen die Einbürgerung gewähren, da sie keine rechtmäßige Alternative haben, die der Verfassung und der UN-BRK entspricht.
KSL.Münster: Kann das Gesetz angefochten werden, weil es Menschen mit Behinderungen diskriminiert?
Sophia Eckert: Ja, unbedingt. Menschen mit Behinderung sollten sich nicht abschrecken lassen, die Einbürgerung zu beantragen und bei einer Ablehnung die Entscheidung überprüfen zu lassen. Voraussetzung ist allerdings, dass nachgewiesen werden kann, dass die Erwerbsminderung oder -unfähigkeit im Zusammenhang mit der Behinderung steht oder ansonsten unverschuldet ist. Denn auch das neue Staatsangehörigkeitsrecht muss verfassungs- und völkerrechtskonform ausgelegt werden. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Behinderung und vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes und den Vorgaben der UN-BRK.
Es empfiehlt sich, von Beginn an Fachberatungsstellen oder anwaltschaftliche Vertreter*innen hinzuzuziehen, die das Antragsverfahren und eine mögliche Klage begleiten können. Handicap International hat eine telefonische Verweisberatung eingerichtet, die dabei helfen kann, das beste Beratungsangebot vor Ort zu identifizieren und die den Prozess der Anbindung an eine adäquate Beratung und Vertretung unterstützt. Handicap International e.V. sammelt zudem anonymisierte Einzelfälle, um sie in den politischen Prozess einzuspeisen mit dem Ziel, den Ausschluss von der Anspruchseinbürgerung wieder aufzuheben.
KSL.Münster: Vielen Dank für die ausführlichen Antworten.
Zur Autorin:
Sophia Eckert, LL.M.
Referentin politische Arbeit – Flucht und Migration
Crossroads | Flucht. Migration. Behinderung.
Handicap International e.V.
Handicap International (HI) ist eine gemeinnützige Organisation für Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Sie unterstützt weltweit Menschen mit Behinderung und besonders Schutzbedürftige. Handicap International e.V. setzt sich mit dem Arbeitsbereich Crossroads für die Verbesserung der Lebenssituation, die Verwirklichung der Rechte und Teilhabe geflüchteter und migrierter Menschen mit Behinderung in Deutschland ein. Grundlage unserer Arbeit ist die UN-Behindertenrechtskonvention.