
Ulrike Kolar will hörbeeinträchtigten Menschen den Austausch in Arztpraxen erleichtern. Dazu hat sie ein Schulungskonzept entwickelt, mit dem sie Praxisteams in der Kommunikation mit schwerhörenden Menschen sensibilisiert und zeigt, dass die Herstellung von Hör-Barrierefreiheit nicht immer viel kosten muss. In ihrer Heimatstadt Beckum hat sie ihr Konzept bereits erfolgreich umsetzen können.
Das Vorurteil hält sich hartnäckig: Man muss nur laut genug sprechen, dann versteht der schwerhörende Mensch schon was. Dass dies nicht stimmt, weiß Ulrike Kolar nur zu genau. „Lautes Sprechen oder gar schreien ist keine Lösung. Zudem ist dies auch wenig wertschätzend und keine zielführende Strategie zur Lösung von Kommunikationsproblemen.“ Die heute 66-Jährige ist seit mehr als dreißig Jahren stark hörbeeinträchtigt. Sie erlitt Anfang der 1990er-Jahre mehrere Hörstürze und ist seitdem auf dem linken Ohr hochgradig und rechts an Taubheit grenzend schwerhörend. Zudem hat sie bis heute auf beiden Ohren einen chronischen Tinnitus. Seit 1998 trägt sie beidseitig Hörgeräte. In ihrer langjährigen aktiven Berufszeit war sie Vertriebsleiterin in der Elektroindustrie und Haupteinkäufern in der Lebensmittelindustrie. Für ihre beruflichen Verhandlungen musste sie Zusatztechnik einsetzen, da Hörgeräte allein in solchen Situationen nicht ausreichend sind.
Hörbeeinträchtigungen nehmen zu
Nach einer repräsentativen Untersuchung über die Hörfähigkeit in der deutschen Bevölkerung sind rund 19 Prozent der Deutschen über 14 Jahren hörbeeinträchtigt - von leichtgradig schwerhörend bis ertaubt und gehörlos. Das sind knapp mehr als 13 Millionen Menschen. Die Gründe für eine Hörbeeinträchtigung können vielfältig sein: Sie kann angeboren sein, durch Krankheit oder Unfall erworben werden oder aber altersbedingt sein. Da unsere Gesellschaft stetig „älter“ wird, werden Hörprobleme zunehmen.
Auch wenn die Hörgeräte-Technik und andere prothetische Lösungen wie das Cochlea-Implantat (CI) stetig fortentwickelt werden und damit eine große Unterstützung bei Hörverlust sind, können sie das natürliche Hören nicht ersetzen. Sie „übersetzen“ lediglich den Schall, was zu einem anderen Hörerlebnis führt. Die (sehr) laute Ansprache ist dabei nur eines der „Don’ts“, welches man in Gesprächen mit hörbeeinträchtigten Menschen unbedingt vermeiden sollte. Auch können laute Hintergrund- und Umgebungsgeräusche, eine unzureichende Beleuchtung oder Hektik dazu beitragen, dass die Kommunikation eingeschränkt verläuft oder gar misslingt. Unser Alltag bietet jederzeit unzählige solcher Situationen, die bei Menschen mit Hörbeeinträchtigung zu Missverständnissen, Irritationen und Unsicherheiten führen und behindernd sind – in privaten ebenso wie öffentlichen Räumen. Am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Freizeit. Das bedeutet, dauerhaft im Hörstress zu sein.
Hörbarrieren abbauen
Ulrike Kolar will Hörbarrieren abbauen. Deshalb engagiert sie sich ehrenamtlich im NRW-Landesverband des Deutschen Schwerhörigenbundes (DSB), der mit den Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Behinderung (KSL.NRW) einen regen fachlichen Informations- und Erfahrungsaustausch unter anderem zum Thema Inklusive Gesundheit pflegt. Im Rahmen ihrer DSB-Arbeit hat sie sich innerverbandlich zur Fachreferentin für Kommunikation mit dem Schwerpunkt auf Arztpraxen weitergebildet. Anwendung findet ihr Konzept aber auch in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten. Ein besonderer Wunsch von Ulrike Kolar ist es, bereits angehende Ärzte bereits im Studium an den Universitäten für dieses Thema begeistern zu dürfen. Aber auch Feuerwehr, Polizei, Behörden, Unternehmen mit schwerhörenden Mitarbeitenden oder Angehörige von Schwerhörenden würde sie gerne schulen. Ulrike Kolar: „Oft ist es einfach nur Unwissenheit beim Umgang mit dieser unsichtbaren Beeinträchtigung.“
Warum jetzt gerade Arztpraxen? „In Arztpraxen bündeln sich Kommunikationsprobleme exemplarisch für viele alltägliche Gesprächssituationen“, sagt Ulrike Kolar. Zum Beispiel im Gespräch mit dem Arzt, der Ärztin oder dem Praxisteam: „Ein Stirnrunzeln, weil man sich bei Hören so konzentrieren oder so sehr anstrengen muss. Da entsteht schnell der Eindruck, eine Person schaue vielleicht missmutig aus. Ist sie aber gar nicht“, fügt sie hinzu. Oder: „Es kann der Eindruck entstehen, schwerhörende Menschen starren ihr Gegenüber an. Dabei versuchen sie lediglich, das Mundbild des Sprechers oder der Sprecherin zu verstehen.“ Problematisch werde es, wenn eine Hörbeeinträchtigung nicht erkannt wird, sagt Ulrike Kolar. „Dann kann es passieren, dass der Patient oder die Patientin als stur, apathisch, im schlimmsten Fall als demenzerkrankt abgestempelt wird oder Diagnosen und Folgetherapien nicht korrekt verstanden und umgesetzt werden.“

Bewusstsein schaffen durch Aha-Effekt
Mit ihrem Schulungskonzept will die DSB-Aktivistin all dem entgegenwirken, will Aufmerksamkeit und Bewusstsein schaffen, im besten Fall Wege aufzeigen, wie die Kommunikation und Teilhabe von Menschen mit Hörbeeinträchtigung, wie hier in Arztpraxen, besser und einfacher gelingen können. In ihren Seminaren stellt sie zunächst die Arten von Hörschädigungen vor. Sie erklärt die sogenannte Sprachbanane, die das normale Sprachverständnis eines gesunden Gehörs bei normaler Lautstärke abbildet. Sie macht anschaulich, wie Hördefizite oder Nebengeräusche dafür sorgen können, das relativ gleichklingende Buchstaben wie „t“, „d“, „k“, „b“ oder „g“ nicht mehr differenziert wahrgenommen werden und das Sprachverständnis somit leidet.
Aber spätestens bei der Simulation einer Schwerhörigkeit mit einem Stethoskop, an dessen einem Ende ein Hörgerät angebracht ist, erleben die Workshop-Teilnehmenden meist ihre ganz persönliche „Aha-Effekte“. Trotz moderner Technik scheppert und hallt es. Es bedarf großer Konzentration, einem Gespräch zu folgen, zumal wenn der Nebengeräuschpegel hoch ist. „Dadurch habe ich erstmals einen kleinen Eindruck bekommen, wie man technisch unterstützt hört“, ist der Beckumer Familienarzt Dr. Karsten Kühne beeindruckt. So schwierig habe er es sich nicht vorgestellt. Als Ulrike Kolar ihm den Sensibilisierungs-Workshop vorschlug, zeigte sich der Mediziner sogleich aufgeschlossen und neugierig. Auch sein Praxisteam brauchte Dr. Kühne nicht lange zu bitten teilzunehmen. Im Schnitt kommen täglich etwa zehn hörbeeinträchtigte Patient*innen zur Behandlung in die Praxis. "Insofern war das Seminar für unsere Arbeit äußerst hilfreich", sagt Dr. Kühne.

Sehr positiv reagiert haben auch die Zahnärzte Drs. Kai Henning Ohlmeier und Michael Enger. Sie betreiben zwei Gemeinschafts-Zahnarztpraxen mit mehr als 30 Mitarbeitenden an unterschiedlichen Standorten in Beckum. „Alle aus den Praxen waren in ihren Mittagspausen gekommen, um die Schulung von Frau Kolar zu besuchen“, erinnert sich Dr. Ohlmeier. „So manches war uns allen einfach nicht bewusst. Aber wir haben danach so einiges geändert in unserem Verhalten. Zum Beispiel nehmen wir den Mundschutz ab, wenn wir mit den Patientinnen und Patienten kommunizieren.“ Und Marion Fahl, zahnmedizinische Fachangestellte in der Gemeinschaftspraxis, betont: „Das Seminar war spannender als erwartet, so dass wir auch danach noch lange mit Frau Kolar unsere Fragen erörtert haben.“
Tipps für Praxisteams: Damit die Kommunikation in der Arztpraxis gelingt
Am Empfang oder im Gespräch: Blickkontakt aufnehmen und halten.
Im Wartezimmer: Patienten persönlich aufrufen.
Räumliche Nähe herstellen (ein Abstand von etwa 1 bis 1,5 Meter ist optimal).
Für gute Raumbeleuchtung sorgen, damit die hörbeeinträchtigte Person vom Mund absehen kann.
Langsam und deutlich in normaler Lautstärke sprechen. Bitte nicht schreien!
In einfachen und kurzen Sätzen sprechen. Gerne mit Gesten unterlegen.
Sich Zeit nehmen und ein ruhiges Gespräch führen ohne Hektik.
Hintergrundgeräusche verringern. Fenster und Türen schließen. Telefon stummschalten. Radio, TV, Smartphone und Tablet ausschalten.
Wichtige Informationen zum Nachlesen aufschreiben. Dazu Papier und Stift bereithalten.
Rückfragen, ob eine Diagnose und die nachfolgende Behandlung (etwa Nachfolgetermine, Medikamenteneinnahme) richtig verstanden worden sind.
Darauf achten, dass bei Gesprächen in der Aufnahme, in der Behandlung und beim Arzt/bei der Ärztin bei Bedarf ein Hörverstärker vorhanden ist.
Unter Umständen eine Schriftdolmetschung bei der Krankenkasse des Patienten beantragen.
Eventuell eine App einsetzen, die das gesprochene Wort unmittelbar verschriftlicht.
(Quelle: Ulrike Kolar, Hörgeschädigte Patienten in Arztpraxen)
Zugewandte Kommunikation bringt Vorteile für alle
Die Vorteile für die Ärzt*innen und Praxisteams und die Patient*innen, die Ulrike Kolar vortrug, überzeugten sowohl die Ärzt*innen als auch die Mitarbeitenden. „Das ist für beide Seiten eine echte Win-win-Situation“, fasst sie zusammen. „Die Menschen mit einer Hörbehinderung fühlen sich alles in allem in der Praxis gut aufgehoben. Sie empfinden die Kommunikation auf Augenhöhe als wohltuend und wertschätzend.“ Für die Mediziner*innen und den Mitarbeitenden führe eine zugewandte Kommunikation zu mehr Effektivität und setze Ressourcen frei. „Die Ärzt*innen und Mitarbeitenden müssen sich nicht ständig wiederholen, weil die schwerhörenden Menschen sie besser verstehen können, wenn sie die Hinweise beherzigen.“ Das gebe mehr Sicherheit auf beiden Seiten, zum Beispiel bei der Übermittlung von Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten.
NRW-Landesbeauftragte unterstützt das Konzept
Mittlerweile findet Ulrike Kolar auch in der Landeshauptstadt Gehör für ihr Anliegen. Bei einem Besuch in Düsseldorf stellte sie kürzlich Claudia Middendorf ihr Schulungskonzept vor. Die NRW-Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung sowie für Patientinnen und Patienten zeigte sich beeindruckt und sagte zu, Ulrike Kolars Bemühungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf Landesebene zu streuen. „Frau Kolars Konzept unterstreicht, wie wichtig es ist, immer wieder auf die Belange von Menschen mit Behinderung hinzuweisen und dafür zu sensibilisieren“, sagt Claudia Middendorf. „Vor allem aber macht es deutlich, dass es nicht immer teurer Investitionen bedarf, um Barrieren abzubauen und die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu stärken.“
Einstweilen wünscht sich Ulrike Kolar weitere Anfragen von Artpraxen und anderen Zielgruppen. „Die Schulung an sich ist kostenfrei“, sagt sie. Es sollten lediglich die Reisekosten übernommen werden, wenn der Veranstaltungsort von Beckum weiter entfernt in NRW liegen sollte. Um ihre Mission zu verbreiten, ist ihr kein Weg zu weit. (MKM)

Links zu Broschüren zum Thema
DSB-Ratgeber 4: Als Patient beim Arzt, im Krankenhaus oder in der Pflege. https://www.schwerhoerigen-netz.de/fileadmin/user_upload/dsb/Dokumente/Information/Service/Ratgeber/Ratgeber4_Als_Patient.pdf
DSB-Ratgeber 21: Tipps für die Kommunikation mit hörgeschädigten Patienten. https://www.schwerhoerigen-netz.de/fileadmin/user_upload/dsb/Dokumente/Information/Service/Ratgeber/Ratgeber21_Fuer_AErzte_und_Pflegekraefte.pdf
Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben für Menschen mit Sinnesbehinderung NRW (KSL-MSI-NRW): Tipps zum Umgang und zur Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Sinnesbehinderung. https://ksl-msi-nrw.de/sites/default/files/public/year/2024/12/PDF_KSL-MSi_BRO_SensiPRO.pdf
KSL-Konkret #6, Wegweiser Barrierefreiheit. https://www.ksl-nrw.de/sites/default/files/public/year/2023/01/221208_KSLkonkret_6_Barrierefrei_barr.pdf
Fotos: DSB, KSL.NRW, privat
Kontakt: Ulrike Kolar, ulrike.kolar@dsb-lv-nrw.de